Der Abwasserkanal – Satire oder Realität? Eine Analyse

Baustelle, es werden Kanalrohre verlegt
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6 Minuten
Astrid Kurbjuweit
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K besitzt ein Grundstück in einem kleinen Dorf. Eines Tages erscheint F, ein Angestellter der örtlichen Gemeinde, bei ihr und verlangt Ihre Unterschrift unter eine Vereinbarung. Grund dafür ist der Wunsch von F, einen öffentlichen Abwasserkanal auf dem Grundstück von K zu bauen. F ist rhetorisch sehr geschickt, und im ersten Moment glaubt K wirklich, F hätte das Recht, auf ihrem Grundstück zu bauen. Nur die Forderung, dass die Unterschrift jetzt sofort, an der Haustür, zu erfolgen habe, macht K stutzig.

K recherchiert und findet, dass F nur dann berechtigt ist, auf ihrem Grundstück zu bauen, wenn sie ihm dies gestattet. F scheint das zu wissen, denn er drängt massiv auf das Unterschreiben des Vertrages. Weiterhin findet K, dass die Bedingungen in dem ihr vorgelegten Gestattungsvertrag nicht unbedingt zu ihrem Vorteil sind. Allerdings ist K generell am Bau eines Abwasserkanals interessiert, denn ohne Abwasserkanal hat sie keinen Zugang zur neuerrichteten Kläranlange des Dorfes. Auf der anderen Seite hat F mehrere Möglichkeiten, den Abwasserkanal auch außerhalb von K’s Grundstück zu bauen und er ist verpflichtet, K den Zugang zur Kläranlage zu ermöglichen.

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Zuletzt aktualisiert am 8. Oktober 2024 um 06:30 . Wir weisen darauf hin, dass sich hier angezeigte Preise inzwischen geändert haben können. Alle Angaben ohne Gewähr.

F droht, wenn K nicht unterschreibt, dann würde er den Kanal außerhalb ihres Grundstückes bauen. F verspricht, wenn K unterschreibt, dann würde alles viel billiger werden. F hält eine eineinhalbstündige Rede, in der er über F spricht. F ist demnach ein außerordentlich kompetenter Vertreter seines Faches, er verfügt über enorme Kompetenzen, eine immense Verantwortung und ist natürlich auch menschlich von außergewöhnlicher Güte. Er meint es nur gut mit K. Deshalb droht er ihr, wenn sie nicht unterschreibt, wird alles ganz schlimm für sie werden. In Ermangelung konkreter Informationen unterschreibt K erstmal nicht.

Das Dilemma

Die geschilderte Situation ist ein soziales Dilemma, denn die beiden Beteiligten haben ein gemeinsames Interesse, sie möchten, dass ein Abwasserkanal gebaut wird. Daneben haben sie aber auch entgegengesetzte Interessen, denn F möchte den Kanal auf K’s Grundstück bauen und zu dem Zweck nach Belieben über K’s Grundstück verfügen, während K die Rechte an ihrem Grundstück nicht abgeben möchte.

Eine rationale Analyse des Dilemmas erfordert, dass von den verschiedenen Drohungen, Versprechungen und Verschleierungen abstrahiert wird und nur die tatsächlich vorhandenen Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten mit ihren jeweiligen Konsequenzen betrachtet werden.

Vereinfacht dargestellt, haben beide Beteiligte jeweils zwei Handlungsmöglichkeiten: K kann einen Vertrag unterschreiben, was dazu führt, dass ein Kanal auf ihrem Grundstück gebaut wird. Unter welchen Bedingungen dies statt findet, hängt von der Entscheidung von F ab. Oder sie kann eben nicht unterschreiben, mit der Folge, dass F woanders bauen muss. F hat die Option, auf der unveränderten Durchführung seiner Pläne zu bestehen. In dem Fall würde es von K´s Entscheidung abhängen, wo der Kanal gebaut werden würde. Oder F kann auf der Suche nach einem Kompromiss die Vertragsbedingungen oder den Verlauf des Kanals auf K´s Grundstück verändern, so dass K auch mit Kanal die Rechte an ihrem Grundstück behalten kann. In jedem Fall hängt das endgültige Ergebnis von den Entscheidungen beider Beteiligter ab. Keiner der beiden kann unabhängig vom anderen ein bestimmtes Ergebnis erzwingen.

Abstrakt betrachtet, hat jeder Beteiligte zwei Optionen, er kann mit dem anderen kooperieren (Vertrag unterschreiben, Zugeständnisse machen, C) oder er kann sich so entscheiden, wie es seinem eigenen unmittelbaren Vorteil entspricht (Nicht unterschreiben, auf unveränderter Durchführung bestehen, D). Aus der Kombination dieser Möglichkeiten ergeben sich vier mögliche Ergebnisse, wie in der Abbildung zu sehen.

Das Dilemma um den Abwasserkanal, vereinfacht

schematische Darstellung des Dilemmas um den Abwasserkanal

Die Zahlen in den Zellen stellen die Präferenzen der Beteiligten für die jeweiligen Ergebnisse dar. Die Darstellung hat dabei folgende Form: (Präferenz für F/ Präferenz für K). Ein Eintrag der Form (4/1) bedeutet dabei, dass dieses Ergebnis für F das bestmögliche ist (4) und für K das schlechteste (1). Aus der Betrachtung der Reihenfolge der Präferenzen ergibt sich, dass dieses soziale Dilemma von der Form her ein Prisoner’s Dilemma ist. Es gelten also alle theoretischen und praktischen Überlegungen, die im Prisoner´s Dilemma angewandt werden. Insbesondere ist eine spieltheoretische Lösung des Dilemmas möglich.

Die spieltheoretische Lösung

Mit Hilfe der Spieltheorie lässt sich leicht die Lösung zu dem oben angegebenen Dilemma finden. Dabei muss eine Voraussetzung für die Anwendung der Spieltheorie beachtet werden: die vollständige Rationalität. Vollständige Rationalität bedeutet, dass beide Akteure sich rational verhalten in dem Sinne, dass sie jeweils ihren eigenen Vorteil zu maximieren versuchen. Gleichzeitig sind sich beide Akteure der Tatsache bewußt, dass der jeweils andere ebenfalls versucht, seinen eigenen Vorteil zu maximieren, sich also auch rational verhält.

Unter Beachtung dieser Voraussetzung kann man die spieltheoretische Berechnung umgangsprachlich nachformulieren. Für K gilt folgende Überlegung: Wenn F unverändert an seinen Plänen festhält, dann ist es für K besser, nicht zu unterschreiben, denn unterschreiben würde ihr das für sie schlechteste Ergebnis einbringen (1). Nicht zu unterschreiben, bringt ihr unter diesen Umständen immerhin das zweitschlechteste Ergebnis (2) ein. Wenn F dagegen seine Pläne verändert und kooperativ die Bedingungen anpasst, unter denen der Abwasserkanal gebaut werden soll, dann ist es für K besser, nicht zu unterschreiben, denn unterschreiben bringt ihr in dem Fall nur das zweitbeste Ergebnis ein (3), während nicht unterschreiben das für sie beste Ergebnis bringen würde (4). Egal was F tut, nicht unterschreiben ist also für K die bessere Entscheidung.

Für F gilt entsprechend die folgende Überlegung: Wenn K unterschreibt, dann ist es für F besser, seine Pläne nicht zu ändern, denn dies bringt ihm ein Ergebnis von 4, während eine Änderung nur ein Ergebnis von 3 für ihn bringen würde. Wenn K dagegen nicht unterschreibt, dann ist es für F ebenfalls besser, seine Pläne nicht zu ändern, denn das bringt ihm ein Ergebnis von 2, während eine Änderung seiner Pläne unter diesen Umständen zu dem für ihn schlechtesten Ergebnis führen würde. Egal was K tut, für F ist es in jedem Fall besser, unverändert an seinen Plänen fest zu halten.

Für F ist es also in jedem Fall besser, an seinen Plänen fest zu halten, während es für K in jedem Fall besser ist, nicht zu unterschreiben. Aus der Annahme der vollständigen Rationalität folgt, dass beide Beteiligte diesen Gedankengang kennen und anwenden. Daraus ergibt sich als Lösung des Dilemmas das für beide zweitschlechteste Ergebnis (2/2).

Aus spieltheoretischer Sicht gibt es keinen Ausweg aus dieser Situation, das Ergebnis tritt zwingend ein. Mit dieser Analyse kann also zwar das Ergebnis des Dilemmas erklärt werden, nicht jedoch die Beobachtung, dass F die für ihn beste Lösung (4/1) angestrebt hat, die ja aus spieltheoretischer Sicht nicht erreichbar ist. Ebenfalls nicht erklärt werden kann der Versuch von K, zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen, die immerhin für beide Beteiligte zum jeweils zweitbesten Ergebnis (3/3), das auch als Wohlfahrtsoptimum bezeichnet wird, geführt hätte. Eine Erklärung für diese unrationalen Handlungsweisen kann man in der sozialpsychologischen sozialen Dilemma-Forschung finden.

Soziales Dilemma und soziale Wertorientierung

In empirischen Untersuchungen mit Prisoner’s Dilemma und anderen Formen sozialer Dilemmata wird immer wieder gefunden, dass es einigen Beteiligten gelingt, zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. Sie ziehen die Lösung (3/3), die das Gemeinwohl maximiert, der Lösung (2/2) vor und einigen sich entsprechend. Durch dieses im Sinne der Spieltheorie unrationale Verhalten erzielen sie also bessere Ergebnisse als durch rationales Verhalten.

Da diese besseren Ergebnisse nur einigen Personen gelingen, während andere immer wieder in der spieltheoretischen Lösung landen, wird angenommen, dass sich Menschen in ihrer so genannten sozialen Wertorientierung unterscheiden. Diese soziale Wertorientierung ist eine Eigenschaft des Menschen, die sein Handeln im Dilemma und in anderen Konfliktsituationen maßgeblich beeinflusst.

Es gibt sehr viele verschiedene soziale Wertorientierungen. Zwei wichtige, die auch in der hier beschriebenen Geschichte eine Rolle spielen, sind die individualistische Wertorientierung und die kooperative Wertorientierung. Die individualistische Wertorientierung entspricht weitgehend der spieltheoretischen Vorstellung von Rationalität. Nur der eigene Vorteil ist entscheidungsrelevant. Für einen Menschen mit kooperativer Wertorientierung sind dagegen sowohl der eigene Vorteil als auch das Gemeinwohl in gleichem Maße entscheidungsrelevant.

Die beiden Wertorientierungen unterscheiden sich ebenfalls darin, wie sie das Verhalten anderer Menschen bewerten und darauf reagieren. Ein Mensch mit kooperativer Wertorientierung weiß, dass es sowohl kooperative als auch individualistische Menschen gibt, er wundert sich also nicht über unterschiedliche Verhaltensweisen. Dementsprechend passt er sein Verhalten an, je nachdem, mit wem er es zu tun hat. Wenn er mit jemandem konfrontiert ist, der ebenfalls eine kooperative Wertorientierung hat, dann versucht er zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. In der Interaktion mit einem Menschen mit individualistischer Wertorientierung verhält er sich demgegenüber ebenfalls individualistisch, denn er möchte nicht ausgenutzt werden.

Ein Mensch mit individualistischer Wertorientierung ist dagegen überzeugt, dass alle so handeln würden wie er. Als Erklärung für die Beobachtung, dass sich in der Realität nicht alle so verhalten wie er, vermutet er Dummheit, Unaufmerksamkeit oder ein Nichtverstehen der Situation. Er fühlt sich dem kooperativ eingestellten überlegen, denn er selbst verhält sich nachweislich nicht dumm.

Vor diesem Hintergrund kann man das Verhalten von F und K besser verstehen. K hat eine kooperative Wertorientierung, versucht also zunächst, zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. Als sie merkt, dass dies nicht möglich ist, ändert sie ihr Verhalten und verhält sich wie ein Mensch mit individualistischer Wertorientierung, verfolgt also nunmehr ausschließlich ihren eigenen Vorteil. F verhält sich von vornherein entsprechend seiner individualistischen Wertorientierung. Er fühlt sich K überlegen, denn er unterstellt, K würde die Situation nicht verstehen. Dieses Nichtverstehen versucht er sogar noch zu fördern und zu seinem Vorteil zu verwenden, indem er eine Menge unrelevanter Informationen liefert, während er die entscheidungsrelevanten Informationen für sich behält. Er versucht also, K zu kooperativem Verhalten zu bewegen, obwohl er selbst nicht beabsichtigt, sich kooperativ zu verhalten. Er versucht, K auszunutzen.

Kooperation ist möglich

Die formale Struktur des Prisoner’s Dilemma wurde in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts als Modell des kalten Krieges zwischen den USA und der UdSSR entworfen. Allen spieltheoretischen Analysen zum Trotz hat damals keine der beiden Seiten den nächsten Weltkrieg begonnen. Sie haben kooperiert. Gegenseitige Kooperation ist also möglich, auch ohne gegenseitige Sympathie. Das Wissen darum, dass der Andere sich nicht wird ausnutzen lassen, reicht.

Der Abwasserkanal, das soziale Dilemma und die Phantasie des Autors

Auf dieser Seite wird eine Geschichte erzählt, die vollständig der Phantasie der Autorin entspringt und die deshalb in keiner Weise mit der Realität übereinstimmt.
Natürlich wäre es denkbar, dass sich eine solche Geschichte irgendwo und irgendwann einmal zutragen könnte. Das macht sie zu einer guten Illustration eines sozialen Dilemmas und zeigt, wie Dilemmasituationen auch im täglichen Leben auftreten können. Dabei kann es auch um andere Gegenstände gehen, es muss nicht unbedingt ein Abwasserkanal sein. Entsprechend dem fiktiven Charakter der Geschichte handelt es sich natürlich auch bei den handelnden Personen um fiktive Charaktere. Etwaige Übereinstimmungen mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und sicherlich nicht beabsichtigt.

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Beitragsbild: V.Lawrence/Shutterstock